Aktuell fühlen sich zwei von drei Bundesbürgern als Europäer. Doch das war nicht immer so. In Zeiten der Euro- und Finanzkrise stimmten dieser Aussage nicht einmal zwei von fünf Deutschen zu. Die gegenwärtige Corona-Pandemie hat demnach keinen negativen Einfluss auf das europäische Grundgefühl. Ganz im Gegenteil, denn parallel zu dem steigenden persönlichen Gefühl, sich Europa zugehörig zu fühlen, sank der Wunsch innerhalb der Bevölkerung, dass Deutschland sich mehr um deutsche und weniger um europäische Interessen kümmern solle in den letzten fünf Jahren um 22 Prozentpunkte.
Diese Zahlen stimmen hoffnungsvoll, denn eine Kernvoraussetzung für das Gelingen der Europäischen Gemeinschaft liegt in der emotionalen Verbundenheit der Menschen mit ihrem Kontinent. Dabei bleibt das Bild der Europäischen Union oftmals noch vage und auch ihre Stärken sind wenig greifbar. Für viele Bürger wirkt die EU abstrakt, inhaltslos und bürokratisch.
Eine noch positivere Perspektive auf Europa könnte erreicht werden, wenn man das Potential einer positiven Identifikation schon als im Bürger verankert ansieht und auf diesem aufbauen würde. Die Identität jedes Einzelnen ist nicht unveränderlich oder eine biologische Gegebenheit, sondern wird durch Sozialisation, Gruppenzugehörigkeit und soziale Rollen geprägt und beeinflusst.
Auch die Abgrenzung zum Mitmenschen ist hierbei ein wichtiges soziales Verhalten, um sich seiner selbst bewusst zu werden. Diese Abgrenzung bedeutet jedoch keine Ablehnung oder Abwertung von anderen. Sie fördert die Auseinandersetzung, den Austausch und das Erleben von Gemeinsamkeiten und Unterschieden. Wichtige Orte der Auseinandersetzung sind beispielsweise die Familie und der Freundeskreis sowie Institutionen wie Schulen, Universitäten und Unternehmen. Ein kontinuierlicher Erfahrungsaustausch führt entsprechend zu mehr Selbsterkenntnis und einer komplexeren Identität, die nicht nur in einer Ausprägung existiert, sondern sich in vielfältiger Weise den jeweiligen sozialen Anforderungen anpasst. Schließlich ist man nicht nur Vater oder Mutter, Ärztin oder Altenpfleger, Spanier oder Finnin, sondern auch Tochter und Sohn, Nachbar, Freund und Europäer.
Zukunftsweisend wäre es daher, von institutioneller Seite bessere Rahmenbedingungen zu schaffen, die eine positive emotionale Bindung zu Europa stärken, in der sich jeder einzelne Bürger entfalten kann. Diese könnte z.B. eine verbesserte Transparenz und Aufklärung von strukturellen Prozessen beinhalten, eine intensivere Vermittlung von erfolgreichen Beschlüssen, Konzepten und Vereinbarungen, das sichtbare gemeinschaftliche Agieren in Offenheit und Verbundenheit sowie eine stärkere zivilgesellschaftliche Teilhabe. Wenn mehr gesellschaftliche Kräfte – von Politik und Wirtschaft über Wissenschaft und Kultur bis hin zur Bevölkerung – hieran zusammenarbeiten, könnte und würde sich eine starke europäische Identität entwickeln.
Das Ziel „Mehr Europa“ ist mit Sicherheit eines der größten gesellschaftlichen Themen der Zukunft, entsprechend muss ihm mit Weitsicht und verantwortlichem Zukunftsdenken begegnet werden, um die Chancen zu nutzen und die Risiken zu minimieren. Europa ist mittlerweile weit mehr als ein Friedensgarant. Die EU sorgt für Verbraucherschutz, Arbeitsplätze, einen fairen Wettbewerb, Sicherheit und Umweltschutz. Sie ermöglicht es allen Europäern, überall in der EU leben und arbeiten zu können und bietet der Welt mit ihren gemeinsamen Werten einen Maßstab für Menschenrechte, Demokratie, sozialen Zusammenhalt und Chancengleichheit. Es ist daher dringender denn je, durch kreative, neuartige und zukunftsweisende Lösungsvorschläge die Rolle Europas in der Welt und die Zukunft Europas positiv zu gestalten.