Perspektiven zum Jahreswechsel
2005 rücken die Menschen enger zusammen.
Die Hilfsbereitschaft nimmt auf breiter Ebene zu
Hilfsbereitschaft und sozialer Zusammenhalt waren in Deutschland bisher unterentwickelt. Doch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten entdecken die Bundesbürger die Hilfeleistung wieder. Sie machen die Erfahrung des Aufeinander-Angewiesenseins und lernen, das Gebrauchtwerden zu schätzen. Sie wollen sich gegenseitig mehr helfen und nicht alle sozialen Probleme einfach dem Staat oder der Politik überlassen. Für das neue Jahr 2005 hat sich jeder zweite Bürger (49%) "ganz fest vorgenommen", den Nachbarn zu helfen. Und ein Viertel der Bevölkerung (27%) will sich mehr als bisher (10%) im sozialen Bereich ehrenamtlich engagieren. Dies geht aus Repräsentativumfragen hervor, in denen jeweils 1.000 Personen ab 14 Jahren im gesamten Bundesgebiet danach gefragt wurden, welche sozialen Hilfeleistungen sie "im Jahr 2004 ausgeübt" und welche sie sich "für das neue Jahr 2005 ganz sicher vorgenommen" haben.
Immer mehr Bundesbürger wollen nach dem Grundsatz leben: Hilf dir selbst, bevor der Staat dir hilft. Im Zeitvergleich der beiden Jahre 2004 und 2005 zeichnet sich ein Einstellungswandel ab. Die Menschen interessieren sich wieder mehr für eine bessere Gesellschaft und wollen auch mithelfen, eine bessere Gesellschaft zu schaffen. In beiden Umfragen bekommt der Freundeskreis fast die Bedeutung einer zweiten Familie: "Freunden helfen" (2004: 58% – 2005: 63%) steht ganz obenan in der Aktivitätenliste der Hilfsbereitschaften. Im kommenden Jahr wollen vor allem Singles und kinderlose Paare Freundschaftskontakte pflegen und festigen und ihren Freunden mit Rat und Tat öfter zur Seite stehen (je 73%). Für Singles und Kinderlose sind Freunde wie soziale Konvois, die ihr Leben verlässlich begleiten. Auch ohne eigene Familie helfen Freunde, die soziale Lebensqualität bis ins hohe Alter zu erhalten.
Vorsätze für 2005: Mehr Verantwortung für andere tragen
Im Vergleich zum zu Ende gehenden Jahr 2004 haben sich die Bundesbürger für das neue Jahr viel vorgenommen: Sie wollen in Kirche und Gemeinde aktiver mitarbeiten (+8 Prozentpunkte), öfter im Verein Aufgaben und Ämter übernehmen (+12) und sich vor allem im sozialen Bereich stärker engagieren (+17). Natürlich wird es auch 2005 eine Kluft zwischen bekundeter Hilfsbereitschaft und tatsächlichem Verhalten geben. Das aber ist genau die große Herausforderung für die sozialen Organisationen und Verbände. Denn jeder ‚Beabsichtiger’ ist ein potentiell Motivier- und Aktivierbarer. Alles kommt jetzt darauf an, Gelegenheiten zum Helfenkönnen zu schaffen oder zumindest den Interessierten den Spaß am freiwilligen Engagement nicht zu verderben.
Auf dem Weg zu einer neuen Selbsthilfe-Gesellschaft spielt die Nachbarschaftshilfe eine zentrale Rolle. Fast die Hälfte der Bevölkerung (45%) hat bereits im laufenden Jahr praktische Nachbarschaftshilfe geleistet – von der einfachen Hausaufsicht mit Tier- und Pflanzenpflege in Urlaubszeiten bis zum Hilfsangebot bei persönlichen oder familiären Problemen. Im kommenden Jahr will jeder zweite Bürger (49%) seinen Nachbarn helfen – in Ostdeutschland etwas mehr (52%) als in Westdeutschland (49%) und auf dem Lande mehr (51%) als in der Großstadt (46%). Vor allem die Frauen (55%) und die 50plus-Generation (56%) halten viel von Nachbarschaftshilfe als einer wirksamen Form gelebter Alltagssolidarität.
In einem aber sind sich die meisten Bundesbürger weitgehend einig: Sie halten wenig (8%) von einer Mitarbeit in Partei oder Gewerkschaft. Während sie im sozialen Bereich hochmotiviert mit Ernst und Freude bei der Sache sind, haben sie im politischen Bereich eher die Befürchtung, in die Pflicht genommen, instrumentalisiert oder gar einverleibt zu werden. Zudem haben sie hierbei wenig Hoffnung auf persönliche Erfolgserlebnisse und individuelle Gestaltungsspielräume.
Hilfe zur Selbsthilfe: Hilf anderen, damit auch dir geholfen wird
Der Gedanke "Hilf anderen, damit auch dir geholfen wird" lässt die Idee einer Selbsthilfe-Gesellschaft aus den siebziger Jahren wiederaufleben – allerdings unter veränderten Vorzeichen. In der Nach-68er-Zeit war eine Protestbewegung entstanden, die sich gegen staatliche Vereinnahmung richtete. Selbsthilfe wurde dabei als eine Art alternative Eigeninitiative verstanden – von der Wohngemeinschaft über das selbstorganisierte Jugendzentrum bis zum genossenschaftlichen Arbeitskollektiv.
Wenn sich derzeit die Konturen einer neuen Selbsthilfe-Gesellschaft abzeichnen, dann ist damit keine Idylle oder Alternativbewegung gemeint. Ganz im Gegenteil: Fern von allem Dogmatischen und Ideologischen geht es jetzt um eine breite Selbsthilfe-Bewegung ohne Randgruppen-Status. Die wachsende Einsicht in das Aufeinander-Angewiesensein resultiert aus der Angst vor dem sozialen Absturz, vor Wohlstands- und Arbeitsplatzverlusten. Mehr Notstands- als Wohlstandsdenken zwingt zum Selbsthilfe-Handeln, weil der Sozialstaat ‚schwächelt’. Was der Staat den Bürgern in den letzten drei Jahrzehnten an Verantwortung abgenommen hat, müssen sich die Bürger jetzt Zug um Zug wieder zurückholen.