„Fernsehen pur“ ist passé 

Forschung aktuell, 115

25. April 1994

(inkl. Grafiken wenn vorhanden)

„Fernsehen pur“ ist passé

Neue Trendanalyse bestätigt:
Fernsehen wird immer mehr zur Nebensache

Die TV-Zuschauer kommen in die "Wechseljahre": Sie wechseln immer häufiger zwischen den Sendern und proben den sanften Fernsehboykott. Wenn in Deutschlands guten Stuben der Fernseher läuft, schauen immer weniger hin. Die Zuschauer wenden sich zunehmend vom Bildschirm ab und anderen Dingen zu. Es wird gelesen und gegessen, gebügelt und gebastelt, man unterhält sich oder telefoniert mit Freunden. Dies geht aus einer aktuellen Trendanalyse des B·A·T Freizeit-Forschungsinstituts hervor, in der die TV-Gewohnheiten bei 2.000 Westdeutschen ab 14 Jahren im Zeitvergleich der Jahre 1991 bis 1994 untersucht wurden.

Seit vier Jahren werden die Westdeutschen (und 1994 erstmals auch die Ostdeutschen) regelmäßig danach gefragt, ob sie am gestrigen Fernsehabend "nur ferngesehen" haben oder nebenbei "mit anderen Dingen beschäftigt" waren. Das Ergebnis ist alarmierend: 1991 haben sich noch 44 Prozent der westdeutschen Zuschauer voll auf das TV-Programm konzentriert. In den folgenden Jahren ist der Anteil der Zuschauer, die an der Gewohnheit "Fernsehen pur" festhalten, stetig gesunken (1992: 38%, 1993: 37%) und liegt heute bei 36 Prozent. In den neuen Bundesländern liegt der Aufmerksamkeitsgrad gar nur bei 30 Prozent.

"Fernsehen entwickelt sich zum familiären Beiprogramm in einer Mischung aus Geräuschkulisse und Bügelbackground", so Prof. Dr. Horst W. Opaschowski, der Leiter des B·A·T Instituts. "Während das TV-Programm läuft, gehen in den meisten Haushalten die Familienmitglieder ihren persönlichen Beschäftigungen nach – so als ob es das Fernsehen nicht gäbe."

Die Männer lesen Zeitung, essen gemütlich zu Abend und führen nebenbei noch familiäre (Pflicht-)Gespräche. Jeder achte Mann ist während des letzten Fernsehabends "zeitweilig eingeschlafen". Ganz anders das TV-"Vergnügen" der Frauen: In jedem elften Haushalt haben die Frauen das Bügelbrett vor dem Fernseher aufgebaut. Und jede siebte Frau war am letzten Fernsehabend mit Handarbeiten beschäftigt. Fünf Prozent der Frauen spielten bei laufendem TV-Gerät mit den Kindern. Und drei Prozent der Frauen haben den letzten Abend Vor allem die jüngere und mittlere Generation probt den sanften
Fernsehboykott. Fast drei Viertel der 14- bis 19jährigen (73%) sowie der 30- bis 49jährigen (74%) nutzen das eingeschaltete TV-Gerät als Begleitmedium beim Abendessen, Zeitunglesen und gemeinsamen Gespräch. Lediglich die über 50jährigen Zuschauer demonstrieren noch eine relativ große TV-Treue (43%). Insbesondere Familien mit Kindern wenden sich während des Fernsehens anderen Beschäftigungen zu. Traditionelles TV-Verhalten beweisen nur noch 1-Personen- und Rentner-Haushalte. Dahinter verbergen sich Gewohnheiten, Bequemlichkeit und sicher auch Angst vor Einsamkeit.

Fernsehen in der Freizeit:
Die Bildungselite verweigert sich zunehmend

Ein weiterer Trend kündigt sich nach der B·A·T-Analyse für die Zukunft an: Fernsehen entwickelt sich immer mehr zum Medium unterer Bildungsschichten, während die Höhergebildeten zusehends die Lust am Fernsehen verlieren. Noch vor drei Jahren gaben 29 Prozent der Befragten mit Abitur als Schulabschluß in Westdeutschland an, "gestern nicht ferngesehen" zu haben. 1993 war der Anteil auf 38 Prozent gestiegen. In diesem Jahr hat die Verweigerungsquote der Höhergebildeten, die das Fernsehgerät nach Feierabend nicht mehr einschalten, mit 45 Prozent einen neuen Höchststand erreicht.

Fernsehsendungen werden sich immer ähnlicher, weil sich die TV-Sender auf der Jagd nach Einschaltquoten gegenseitig kopieren und imitieren. Niveauverlust und Verfall der Programmvielfalt können die Folge sein. Dabei drohen Nachrichten und politische Sendungen auf der Strecke zu bleiben. Nach den B·A·T-Umfrageergebnissen wurden in den letzten Jahren in Westdeutschland mehr Glücksspielsendungen (1991: 10% – 1994: 16%) und Unterhaltungsserien (1991: 36% – 1994: 42%) gesehen, während im gleichen Zeitraum Nachrichten (1991: 82% – 1994: 68%) und Politische Magazine (1991: 19% – 1994: 9%) deutliche Rückgänge zu verzeichnen hatten. Die TV-Verflachungsspirale droht. Professor Opaschowski: "Eine Art Fahrstuhleffekt entsteht: Die TV-Programme werden eine Niveauebene tiefer gefahren. In der Tendenz siegt die Unterhaltung über die Information."

Diese Entwicklung kann Gesellschaft und Politik nicht gleichgültig lassen. Zwei Drittel der Jugendlichen in Deutschland (Westdeutsche: 63% – Ostdeutsche: 70%) haben am gestrigen Fernsehabend keine einzige Nachrichtensendung gesehen. Jugendliche "bewältigen" also die Informationsflut auf eine ganz besondere Weise: Sie wählen Nachrichtensendungen im Fernsehen eher ab als aus. "TV-Nachrichten – nein, danke!" – eine Herausforderung für die politische Bildungsarbeit.

Hohe "Abschaltquoten" bei Werbeblock und Gameshow

Immer mehr TV-Zuschauer schalten zwar nicht das Gerät, wohl aber innerlich ab. So ist die Aufmerksamkeit der Zuschauer bei der Sendung von Werbung am geringsten. Nur mehr eine Minderheit konzentriert sich voll auf das Programm. Kein anderer Programmteil flimmert an den Zuschauern so beziehungs- und bedeutungslos vorbei wie der Werbeblock. 80 Prozent der Zuschauer sind dann mit anderen Dingen beschäftigt (Westdeutsche: 77% – Ostdeutsche: 95%).

Besonders groß ist die Ablenkung auch bei Glücksspielsendungen. Das Desinteresse steigt offenbar proportional mit der Zahl der Gameshows. In den letzten vier Jahren stieg die "Abschaltquote" bei den Westdeutschen von 67 Prozent (1991) auf 81 Prozent (1994). Die Kluft zwischen der Einschaltquote der Geräte und der Abschaltquote der Zuschauer wird immer größer.

Hinweis

Die Studie "Fernsehkonsum – Facts und Trends" ist gegen eine Schutzgebühr von DM 20,– beim BAT Freizeit-Forschungsinstitut, Alsterufer 4, 20354 Hamburg, zu beziehen. Journalisten und Redaktionen stellen wir auf Wunsch ein Besprechungsexemplar zur Verfügung.

Ihre Ansprechpartnerin

Ayaan Güls
Pressesprecherin

Tel. 040/4151-2264
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