BAT-Studie über die „Schöne, neue Freizeitwelt“ und ihre Schattenseiten 

Forschung aktuell, 117

22. September 1994

(inkl. Grafiken wenn vorhanden)

BAT-Studie über die „Schöne, neue Freizeitwelt“ und ihre Schattenseiten

Deutschland, wann ist Feierabend?
Zwischen Konsum-Trip und Erlebnis-Streß

Deutschlands Vorreiterrolle bei Freizeitzuwachs und Wohlstandssteigerung stößt an ihre sozialen und moralischen Grenzen. Die wachsende Freizeitorientierung läßt die menschlichen Beziehungen instabiler werden. Die Neigung wächst, die Freizeit ohne Einschränkung zu genießen. Und so scheint für die Mehrheit der Deutschen die Entwicklung bereits vorgezeichnet:

Sie erwartet in Zukunft eine Zunahme von Konsumabhängigkeit (Westdeutsche: 74%, Ostdeutsche: 61%) und Aggressionen (72 bzw. 79%), mehr Freizeitstreß (62 bzw. 47%) sowie einen Trend zur Single-Gesellschaft (56 bzw. 43%). Weniger soziale Verantwortung und Vereinsamung in der Freizeit sind weitere Folgen, die jeder zweite Deutsche befürchtet. Dies geht aus der Studie "Schöne, neue Freizeitwelt?" hervor, in der das B·A·T Freizeit-Forschungsinstitut Ergebnisse fünfzehnjähriger Grundlagenforschung dokumentiert und im Vergleich mit aktuellen Untersuchungen ausgewertet hat.

Die Wohlstandsgeneration lebt über ihre Verhältnisse

Die neue Konsum- und Freizeitwelt fordert ihren Tribut: Jeder dritte Deutsche hat jetzt schon das Gefühl, "in der Freizeit zuviel Geld auszugeben" (Ost: 28%, West: 34%). Vor allem die jüngere Generation in Westdeutschland lebt in wachsendem Maße über ihre Verhältnisse (1986: 47%, 1993: 56%). Der hohe Stellenwert kostspieliger Freizeitbeschäftigungen hat seinen Preis: So sind 46 Prozent der Ostdeutschen und 33 Prozent der Westdeutschen gerne bereit, "mehr zu arbeiten", um sich "in der Freizeit mehr leisten zu können". Und bei den unter 30jährigen ist es bereits jeder Zweite, der sein Einkommen erhöhen möchte, um sich Konsumartikel wie modische Freizeitkleidung, Sport- oder Hobbyartikel leisten zu können.

Zu wissen, was "in" ist, bleibt nicht mehr allein der Jugend, den Singles und Besserverdienenden vorbehalten. Die Hälfte der bundesdeutschen Bevölkerung (Ost: 58%, West: 49%) folgt heute diesem Konsumcredo und bestätigt gleichner Freizeitgestaltung bin ich mehr von Angeboten, die Geld kosten, abhängig als mir lieb ist" meinen immer mehr junge Leute im Alter von 14 bis 29 Jahren (1986: 43%, 1989: 46%, 1993: 54%). Das schlechte Gewissen plagt sie. Der Konsumgenuss kann zum Verdruss werden.

Vom Geldausgeben zum Verausgaben ist dann nur noch ein Schritt. Verschuldung und Verarmung könnnen die Folge sein. Prof. Dr. Horst W. Opaschowski, der Leiter des B·A·T Instituts: "Für viele Jugendliche wird es immer schwieriger, sich aus diesem Kreislauf des Konsums zu befreien, weil ein partieller Ausstieg aus den Konsumzwängen schnell als Außenseitertum gebrandmarkt wird, was Isolation und Vereinzelung zur Folge hat". So begeben sich Jugendliche lieber auf den Konsum-Trip.

Soziale Verpflichtungen und Rücksichtnahmen hingegen lösen bei ihnen eher Streßsymptome aus, wenn sie ihnen nachkommen müssen. Zeitaufwendige Verpflichtungen werden zur lästigen Pflicht, der sie sich möglichst schnell entledigen wollen. "Von anderen gestört werden" oder "Rücksicht nehmen müssen" macht heute bereits jeden zweiten Jugendlichen wütend und aggressiv. Und für 29 Prozent sind zum Beispiel Verwandtenbesuche reine Pflichtbesuche, denen sie nur mit großer Unlust, gezwungenermaßen, gereizt und "mit Wut im Bauch" nachkommen. Im Gefolge des Konsumstresses droht die soziale Dimension des eigenen Verhaltens auf der Strecke zu bleiben

Der kommerzielle Angriff auf die Einsamkeit

Nach dem Kriege haben die Deutschen um das Überleben gekämpft und für den eigenen Lebensunterhalt gearbeitet. Wirtschaft und Produktion waren in erster Linie darauf angelegt, materielle Befriedigung zu gewähren. Seit den 80er Jahren verändern sich die Bedürfnisse: Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung erwartet jetzt psychologische "Extras" in Form von Freizeiterlebnissen. Die wachsende Erlebnisorientierung von Gütern und Dienstleistungen war vorhersehbar und von der Freizeitforschung auch vorhergesagt worden. Nur: An die sozialen Folgen des künftigen Erlebniszeitalters hat kaum einer geglaubt.

"Mittlerweile geben die Deutschen das Geld, das Kinder kosten, immer öfter für Freizeit, Hobby, Sport und Urlaubsreisen aus", so Prof. Opaschowski, der Autor der B·A·T Studie. "Die Freizeit-Weltmeister sind offensichtlich Freizeit-Analphabeten geblieben, die in den letzten vierzig Jahren viel Freizeit und Wohlstand hinzugewonnen, aber wenig dazugelernt haben. Viele Illusionen über das herrlich freie Freizeitleben zerplatzen jetzt wie Seifenblasen."
Die Freizeitindustrie in den Bereichen Tourismus, Medien, Sport, Kultur und Konsum läßt Erlebnisse als Waren inflationär in Serie gehen. Dadurch werden die zwischenmenschlichen Beziehungen beeinträchtigt und die psychische und soziale Entwurzelung beschleunigt. Das Geschäft mit den Freizeitproblemen der Menschen wie zum Beispiel wachsender Zeitnot, mangelnder Phantasie und nachlassender Verbindlichkeit echter sozialer Beziehungen droht zur Ausbeutung menschlicher Bedürfnisse zu werden. Das mitmenschliche Einfühlungsvermögen wird zunehmend durch professionelles Entgegenkommen ersetzt. Opaschowski: "Der bezahlte Profi muß den einfühlsamen Menschen ersetzen". Vereinsamung in der Freizeit wird zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor

Trend zur "kinderlosen Freizeitkultur" verstärkt sich

Vor einem Jahrzehnt prognostizierte das B·A·T Freizeit-Forschungsinstitut: "Die Gefahr einer tendenziell kinderlosen Freizeitkultur zeichnet sich für die Zukunft ab". Jetzt ist es so weit. Die Zahl der jungen Leute zwischen 18 und 29 Jahren, die ins heiratsfähige Alter kommen und denen der persönliche Freizeitgenuß wichtiger ist als Familiengründung, wächst ständig (1994: Ost: 41% – West: 50%). Damit nimmt auch die Kinderlosigkeit zu. Deutschland ist das einzige Land in Europa, in dem die einheimische Bevölkerung schrumpft, es hat im EU-Vergleich die niedrigste Geburtenrate.

Die Gewöhnung an das freie Leben zwischen Konsum- und Freizeitgenuß bleibt nicht ohne Folgen. Immer mehr Bundesbürger entscheiden sich für ein Single-Leben, in dem sie ungestört ihren Konsumfreuden und persönlichen Freizeitinteressen nachgehen können. Die Zahl der 1-Personen-Haushalte, die sich keine Sorgen um die Familie und die eigenen Kinder machen möchte, nimmt ständig zu. Auf ihr freies und unabhängiges Leben wollen die Singles nicht mehr verzichten (1985: 58% – 1988: 59% – 1994: 63%). Sie können sich nicht vorstellen, daß ein Familienleben "auf die Dauer mehr persönliche Lebenserfüllung gewährt, als wenn man immer nur an sicht denkt".

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Ayaan Güls
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