Ausverkauf der Arbeitslust? Jeder zweite Berufstätige kann sich erst nach Feierabend verwirklichen
Mit dem Strukturwandel in der Arbeitswelt ist auch ein Wertewandel in der Arbeitnehmerschaft verbunden. Neue Arbeitsformen vom Teamwork im Betrieb bis zur Telearbeit zu Hause verändern das Anspruchsniveau. Arbeitnehmer stellen höhere Ansprüche an die Qualität und Kreativität der Arbeit. „Die veränderten Lebensziele und -konzepte müssen in die Unternehmenspolitik integriert werden“, so Prof. Dr. Horst W. Opaschowski, der Leiter des B·A·T Instituts. „Ohne Motivation und das Engagement der Mitarbeiter sind Produktivitäts- und Effizienzsteigerungen nicht erreichbar.“ Andernfalls machen sich Überdrußsymptome und Verweigerungshaltungen breit – auch und gerade bei den Leistungsorientierten, die ihre Ideen in außerberufliche Lebensbereiche verlagern.
Nur etwa jeder dritte Arbeitnehmer (37%) meint heute, im Beruf Ideen durchsetzen zu können (berufstätige Männer: 41% – berufstätige Frauen 32%). Sind Ideen im Berufsleben out, aber in der Freizeit in? 51 Prozent der Berufstätigen können ihre Ideen lediglich nach getaner Arbeit realisieren. Dies trifft am meisten für die Beamten (63%) und am wenigsten für die Leitenden Angestellten (48%) zu.
Wenn die Freizeit zur Arbeit wird
Eine besondere Form der Leistungsverlagerung kann auch die Flucht in einen Zweitjob oder die Schwarzarbeit sein. Kürzere Arbeitszeiten und sinkende Reallöhne haben ihre Spuren hinterlassen: Für jeden siebten Berufstätigen stellt mittlerweile der zeitliche Gewinn einen finanziellen Gewinn dar: 14 Prozent aller Berufstätigen, also über vier Millionen Beschäftigte machen die Freizeit zur Arbeit. Die Freizeit wird zur zweiten Einkommensquelle, durch die sie viel Geld verdienen können – die Arbeiter (15%) etwas mehr, die Angestellten etwas weniger (10%).
In der nachindustriellen Gesellschaft bekommen Arbeit und Freizeit ein anderes Gesicht. Beide Lebensbereiche müssen ihren Anspruch auf sinnvolle Beschäftigung einlösen. Dabei geht es um die Frage, welchen Beitrag jeweils die Arbeitswelt und der Freizeitsektor zur Sinnerfüllung des Lebens leisten können. Mit dem Ende der Vollbeschäftigung hat die Arbeit ihre dominante Prägekraft für das Leben verloren. Ihre sinnstiftende Funktion bleibt zwar erhalten, daneben nimmt die Prägung des Menschen durch die Freizeit deutlich zu.
Die Freizeit wird heute von den Berufstätigen als genauso sinnvoll angesehen wie die Arbeit (jeweils 57%). Teilweise übertrifft sie schon die Arbeit an Lebensbedeutung. So empfindet beispielsweise eine deutliche Mehrheit (59%) der Berufstätigen ihre Freizeit als erfüllt, während die Arbeit nur von 42 Prozent so erlebt wird. Prof. Opaschowski: „In den siebziger und achtziger Jahren wurde vielfach das Sinnvakuum in der Freizeit beklagt und kritisiert. Jetzt löst auch die Freizeit ihren Anspruch auf Sinnerfüllung des Lebens ein.“ Politik und Wirtschaft sollten sich rechtzeitig auf diesen Wertewandel einstellen und mehr fließende Übergänge und Brücken zwischen Arbeit und Freizeit schaffen.
Die Sinnwelt Arbeit und die Sinnwelt Freizeit ergänzen sich wie Familie und Freundeskreis auch. Vor dem Hintergrund einer wachsenden Zahl von Arbeitslosen, geringfügig Beschäftigten und Frührentnern kann die bezahlte Arbeit nicht mehr länger als allein sinnerfüllend angepriesen werden. Gearbeitet wird schließlich nicht nur gegen Geld. In der Freizeit werden viele unbezahlte Arbeiten erbracht: Hausarbeiten und Do-it-yourself, Kinderbetreuung und Altenpflege sowie ehrenamtliche Tätigkeiten und freiwillige Arbeiten in sozialen Organisationen und Vereinen.
Unternehmen und Unternehmer müssen auf diese außerberufliche Sinnkonkurrenz entsprechend reagieren, also die Arbeit in Zukunft so gestalten, daß sie möglichst nahe an der Freizeit liegt. Eine Arbeit, die interessant und erlebnisreich ist, wird dann wie Freizeit empfunden. Andernfalls würde eine Leistungsverlagerung vom Berufs- in das Privatleben drohen, bei dem der Zweitjob den Sonntagsausflug verdrängt oder Schwitzen nur noch in der Freizeit stattfindet.