Was uns zusammenhält: Ehrlichkeit und Rücksichtnahme 

Forschung aktuell, 168

19. August 2002

(inkl. Grafiken wenn vorhanden)

Was uns zusammenhält: Ehrlichkeit und Rücksichtnahme

Bevölkerung wünscht "Umgangsregeln, die man einhalten sollte"

Wie ein Wanderpokal wird derzeit in der westlichen Welt die Verantwortung für moralische Werte und Umgangsregeln weitergereicht: Von den Eltern an die Schule, von der Schule an die Medien, von den Medien an die Wirtschaft und von der Wirtschaft an den Staat … Verunsicherung, wohin man schaut. Die Folge: Jeder macht sich seine Regeln selber. "Wertekanon", "Verhaltenskodex" und verbindliche "Normen" sind Fremdwörter geworden. Gehen Gemeinsinn und Wertmaßstäbe verloren, weil sich immer weniger Bürger füreinander verantwortlich fühlen? Lautet die Alternative für die Zukunft: Kitt oder Kollaps? Was hält die Gesellschaft noch zusammen?
Je freier wir leben, desto lauter wird der Ruf nach verbindlichen Gemeinsamkeiten. Immer öfter stellt sich nicht mehr die Frage, ob wir wieder eindeutige Regeln brauchen, sondern wie solche Umgangsformen aussehen sollen, die mehrheitsfähig sind und nicht dem Zufall oder der Beliebigkeit überlassen bleiben. Die Deutschen haben durchaus klare moralische Vorstellungen über das, was für alle Bürger verbindlich und selbstverständlich sein sollte. Ganz obenan steht der Wunsch nach Ehrlichkeit – im Berufsleben genauso wie im privaten Bereich (93%). Drei Viertel der Bevölkerung (74%) sind der Meinung, dass man Finanzamt und Versicherungen nicht betrügen soll. Und zwei Drittel (67%) sprechen sich eindeutig gegen Schwarzarbeit aus. Dies geht aus einer Repräsentativumfrage des Freizeit-Forschungsinstituts der British American Tobacco hervor, in der 3.000 Personen ab 14 Jahren nach "Umgangsregeln, die man einhalten sollte", befragt wurden.

Kollegialität und Toleranz: Der soziale Kitt der Gesellschaft

Zu den unverzichtbaren Regeln, die man unbedingt einhalten sollte, gehören nach Auffassung der Bevölkerung die Gebote von Kollegialität und Toleranz. Dazu zählt die Erwartung, sich gegenüber Berufskollegen/innen kollegial zu verhalten (93%). Fast genauso hoch wie Kollegialität wird die Toleranz im täglichen Leben eingeschätzt. 84 Prozent der Bevölkerung sind der Meinung, dass tolerantes Verhalten gegenüber Fremden und Ausländern für alle selbstverständlich sein sollte. Was aber heißt hier Toleranz? Bloß passives Tolerieren von Vielfalt und Verschiedenartigkeit? Oder heißt Toleranz im aktivierenden Sinne eher, dass man andere in ihrem Anderssein kennt und anerkennt und dabei auch die Wertschätzung für das Fremde aktiv zum Ausdruck bringt? "Gelebte Toleranz kann auch bedeuten, dass selbst das Eigene und Vertraute noch einmal hinterfragt und überdacht wird", so Prof. Dr. Horst W. Opaschowski, der Leiter des B·A·T Instituts.

Gesetze können nicht alles regeln.
Bevölkerung: Zuhören können statt "small talk"

Gesetze können nicht alles regeln – sonst gängeln sie. Dies trifft insbesondere für den Umgang im zwischenmenschlichen Bereich zu. Die Bürger machen die Erfahrung, dass heute mehr untereinander als miteinander geredet wird. In den Forderungen der Bevölkerung spiegeln sich immer auch Defizite des Alltags wider. Nur so ist es zu erklären, dass als wichtigste soziale Tugend neben der Ehrlichkeit die Rücksichtnahme in einer Mischung aus Einfühlungsvermögen und Entgegenkommen genannt wird, also die Fähigkeit und Bereitschaft, in Gesprächen anderen zuzuhören und auf sie einzugehen (91%).
Zuhören und in Gesprächen und Diskussionen auf andere eingehen, ja auf sie zugehen können, wird vor allem von der älteren Generation gefordert. Mit zunehmendem Lebensalter verstärkt sich der Wunsch danach (z.B. 25 bis 49 Jahre: 88% – 50 bis 64 Jahre: 93% – 65 bis 75 Jahre: 96%). Im hohen Alter von über 80 Jahren wird das Zuhören-Können mit 100 (!) Prozent Zustimmung gar zur höchsten Lebensqualität erklärt. "Hochaltrige fühlen sich vor allem sozial – und nicht nur räumlich – isoliert", so Professor Opaschowski. "Das Zuhören gibt sozialen Rückhalt und vermittelt das Gefühl, nicht allein dazustehen." Die Unverbindlichkeit oft sekundenschneller Kontakte und Gespräche kann folgenreich sein: Zu Kurzkontakten kommen Kurzgefühle. Es wächst die Sehnsucht nach einem Leben, in dem man einander wieder zuhören und ernsthaft miteinander reden kann. Andernfalls gibt es in Zukunft professionelle Zuhörer für einsame Menschen – weil sonst keiner mehr zuhört.

Höflichkeiten unter jungen Leuten heute

Vor weit über zweitausend Jahren hatte der griechische Dichter Hesiod (700 v. Chr.) jeden Glauben an die Zukunft verloren, weil die Zukunft einer "leichtfertigen Jugend" ohne Benehmen gehörte, die "ohne Zweifel von einer unerträglichen Unverschämtheit" war. Die Kritik an der Jugend hat seither eine lange Geschichte und spiegelt sich noch heute im altdeutschen Sprichwort "Jugend hat keine Tugend" wider. Die repräsentative B·A·T Umfrage vermittelt hingegen ein sehr viel differenzierteres Bild über die Jugend. Auch im 21. Jahrhundert schätzt die Jugend Konventionen. 84 Prozent der 14- bis 29-Jährigen meinen, der Respekt gegenüber Autoritäten (z.B. Eltern, Lehrer, Polizisten, Pfarrer) sollte eigentlich selbstverständlich sein. Es gehöre sich auch – so die Vorstellung von drei Vierteln der Jugendlichen – Älteren in öffentlichen Verkehrsmitteln Platz anzubieten. Und drei von fünf Jugendlichen (60%) nennen gar alte Konventionen wie z.B. Frauen den Vortritt lassen oder ihnen in den Mantel helfen. Diese Einstellung lässt zwei Deutungen zu: "Junger Wein in alten Schläuchen" oder: Mehr Wunsch als Wirklichkeit. Beides trifft wohl heute zu.
Zudem sehen sich die überlieferten Konventionen zwischen Respekt und Rücksichtnahme zusehends mit Herausforderungen des 21. Jahrhunderts konfrontiert, auf die die Jugend neue und eigene Antworten geben muss. Dabei sind die Auffassungen durchaus geteilt. Jeder zweite Befragte im Alter bis zu 29 Jahren (52%) nennt als wünschenswerte Umgangsregel, freiwillig auf das Telefonieren mit dem Handy zu verzichten, wenn es andere stören könnte (z.B. in öffentlichen Verkehrsmitteln). Knapp zwei Drittel der Jugendlichen (63%) meinen auch, man soll nicht länger telefonieren, wenn Besuch da ist. Anders sieht es bei der Nutzung des Walkmans in öffentlichen Verkehrsmitteln aus: Nur knapp jeden Dritten (31%) stört es, wenn man vom Walkman in Bahnen oder Bussen Gebrauch macht. Aber über zwei Drittel der Jugendlichen finden es ganz selbstverständlich, wenn man unterwegs auf das Musikhören nicht verzichtet.
Im Umgang miteinander gönnen sich die jungen Leute heute großzügige Freiheiten. Auf Partys "getrennte Wege gehen" finden 56 Prozent völlig in Ordnung. 62 Prozent finden auch nichts dabei, regelmäßig eigenen Sport- und Hobbyinteressen nachzugehen – selbst wenn es den Partner/die Partnerin stört. Und auch als Verheiratete(r) regelmäßig "ohne Partner(in) mit Freunden ausgehen" finden 51 Prozent normal – und das nicht nur die Männer (m: 52% – w: 50%). Opaschowski: "Hier deutet sich Konfliktstoff für das verbindliche Zusammenleben unter jungen Leuten an, weil die eine Hälfte lieber allein mit Freunden, die andere aber lieber gemeinsam mit Partner(in) ausgehen möchte." Wenn sich dennoch die Wege öfter trennen, gibt es unter den jungen Leuten (84%) wenigstens ein ungeschriebenes Gesetz: Sich niemals abfällig bei anderen über eigene Partner(in) äußern.

Weitere Informationen

Weitere Ausführungen zum Thema finden Sie in dem neuen Buch von Horst W. Opaschowski mit dem Titel "Was uns zusammenhält. Krise und Zukunft der westlichen Wertewelt", das ab sofort im Buchhandel (Olzog Verlag München, ISBN 3-7892-8091-7, 196 Seiten) für 19,80 € erhältlich ist.

Ihre Ansprechpartnerin

Ayaan Güls
Pressesprecherin

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