60 Jahre Bundesrepublik: Quo vadis, Deutschland? 

Forschung aktuell, 213

2. April 2009

(inkl. Grafiken wenn vorhanden)

60 Jahre Bundesrepublik: Quo vadis, Deutschland?

In einer Klassengesellschaft leben – von einer Sozialgesellschaft träumen
Bevölkerung zieht Bilanz: Bundesbürger sagen, in was für einer Gesellschaft sie künftig leben wollen

60 Jahre Bundesrepublik Deutschland: Ein Grund zum Feiern, aber auch ein Anlass für Rückblick und Vorausschau. Was hat Deutschland bisher erreicht? Und wie geht es weiter? Ludwig Erhards programmatische Forderung von 1957 „Wohlstand für alle“ muss ein halbes Jahrhundert später als „Sozialer Wohlstand für alle“ erweitert werden. Wohlstand kann in Zeiten wachsender sozialer Risiken nicht mehr länger eine bloße Geld- und Güterfrage sein. Über das materielle Verständnis von hohem Lebensstandard hinaus muss der erweiterte Wohlstandsbegriff auch die soziale Lebensqualität und Lebenszufriedenheit der Bevölkerung mit einschließen. Nur mehr knapp ein Drittel der Deutschen (31%) glaubt, heute noch in einer Wohlstandsgesellschaft zu leben. Mehr als doppelt so viele (66%) aber wünschen sich für die Zukunft eine
„Sozialgesellschaft“, in der der Staat die Bürger vor Not, Armut und Arbeitslosigkeit schützt und „sozial absichert“ sowie allen eine individuelle Zukunftsvorsorge ermöglicht. Dies geht aus einer aktuellen Repräsentativbefragung der Stiftung für Zukunftsfragen hervor, in der 2.000 Personen ab 14 Jahren danach gefragt wurden, wie sie heute leben und in was für einer Gesellschaft sie morgen leben wollen.

„Die Deutschen wollen nach wie vor ein sicheres Einkommen haben und sorgenfrei und ohne Zukunftsangst leben können“, so Prof. Dr. Horst W. Opaschowski, der Wissenschaftliche Leiter der Zukunftsstiftung. „Sie erwarten, dass der Staat seine Sicherheitsversprechen einlöst, und hoffen auf mehr soziale Gerechtigkeit.“ Doch genau hier setzen die Sorgen der Bevölkerung ein. Nur drei Prozent der Deutschen glauben, in einer Zivilgesellschaft zu leben, in der Freiheit, Gleichheit und Sicherheit garantiert und gelebt werden können. Um ein Vielfaches höher (39%) und realitätsnäher aber ist nach Meinung der Bevölkerung die bundesrepublikanische Zustandsbeschreibung einer Klassengesellschaft, in der das Wohlstandsgefälle wächst und die soziale Kluft zwischen Arm und Reich immer größer wird.

Professor Opaschowski: „Soziale Spannungen drohen, wenn sich weiterhin ein tiefer Graben durch Deutschland zieht. Insbesondere die Landbewohner sehen sich benachteiligt, weil die Grundversorgung vom Nahverkehr bis zur ärztlichen Versorgung nicht mehr gewährleistet ist. Und auch die Ostdeutschen fühlen sich – zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung – ausgegrenzt, weil Arbeit und Wohlstand zunehmend in den Westen wandern.“ Politisch programmatische Leitbilder wie die Bürgergesellschaft (5%) und die Wissensgesellschaft (9%) sind in der bundesrepublikanischen Wirklichkeit bei der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung bisher nicht angekommen.

Was hingegen die Menschen in Deutschland quer durch alle Berufs-, Sozial- und Altersgruppen mehr miteinander verbindet, ist der Gedanke der Leistung. 38 Prozent der Bundesbürger identifizieren sich mit der Leistungsgesellschaft, vor allem die mittlere Generation der 30- bis 49-Jährigen (40%). Opaschowski: „Die Leistungsgesellschaft lebt. Sie schafft für viele erst die Voraussetzungen für ein erfülltes Leben – auch jenseits von Arbeit und Erwerb.“ Denn nur mehr wenige Bundesbürger glauben daran, dass die Bundesrepublik noch einer Arbeitsgesellschaft (16%) gleicht. Globalisierung und Wertewandel haben in den letzten Jahrzehnten die gesellschaftspolitischen Leitbilder in Deutschland grundlegend verändert. Jetzt wünschen sich die Bürger gesellschaftliche Strukturen, die lebenswert und zukunftsfähig zugleich sind.

So wollen die Deutschen morgen leben!
In Verantwortung für kommende Generationen

Wenn es nach den Wünschen der Bevölkerung geht, dann gehört die Zukunft der Bundesrepublik einer Sozialgesellschaft (66%), einer Generationengesellschaft (56%) und einer Hilfeleistungsgesellschaft (52%). „In der Dreifach-Sicherung des Lebens

  • soll der Staat die Bürger vor sozialer Not schützen,
  • müssen die Generationen fest zusammenhalten und füreinander da sein,
  • wollen sich die Menschen wieder mehr selber helfen, indem sie pragmatisch Gemeinschaften auf Gegenseitigkeit bilden“, so Professor Opaschowski.

„Dabei verlieren sie ein Stück persönlicher Freiheit und Unabhängigkeit, gewinnen dafür aber genügend Sicherheit und soziale Geborgenheit.“ Diese positive Vision der Bevölkerung ist werte- und zielorientiert. Sie sollte für die Politik richtungsweisend und handlungsleitend sein. Nur so lässt sich soziale Stabilität für die weitere Zukunft sicherstellen.

Es ist schon bemerkenswert, dass der Wunschgedanke einer Hilfeleistungsgesellschaft bei den Westdeutschen genauso hoch ausgeprägt ist wie bei den Ostdeutschen (jeweils 52%). Aus der Not, aufeinander angewiesen zu sein, entwickeln sie die gemeinsame Tugend, sich gegenseitig zu helfen. Mit zunehmendem Alter wächst auch die Bereitschaft, „nicht auf Kosten der nächsten Generationen zu leben“ (bis 34 Jahre: 46% – 35 bis 54 Jahre: 55% – 55 Jahre und mehr: 64%). Opaschowski: „Die älteren Generationen nehmen ihre Verantwortung ernst. Sie sparen nachweislich für die Jüngeren. Und der vielbeschworene Krieg der Generationen findet nicht statt.“

Gut leben statt viel haben.
Leben in der Wohlfühlgesellschaft

Mit den veränderten Zukunftsorientierungen der Deutschen verlieren die gesellschaftlichen Leitbilder der siebziger bis neunziger Jahre ihre Dominanz. Nur mehr etwa jeder fünfte Bundesbürger hält die Konsumgesellschaft (21%) oder die Erlebnisgesellschaft (21%) für zukunftsfähig und erstrebenswert. Deutlich mehr Bürger setzen sich bescheidene Ziele und geben sich eher mit einer „Wohlfühlgesellschaft“ (39%) zufrieden, in der „gut leben statt viel haben“ möglich ist und nicht nur intensives Erleben und Genießen gefordert wird.

Natürlich ist das individuelle Wohlfühlen nicht ohne einen Mindeststandard an materiellem Wohlstand möglich, weshalb auch auf das wirtschaftliche Wachstum in der Regel nicht verzichtet werden kann. Andererseits sind Geld und Güter nicht mehr die einzige wertvolle Währung des Lebens. Das erweiterte Wohlstandsverständnis schließt das subjektive Wohlbefinden zwangsläufig mit ein. In Zukunft kann Wohlstand für die Deutschen auch bedeuten, weniger Güter zu besitzen und doch besser zu leben.

Antwortmöglichkeiten der Befragten

Ich lebe/will leben in einer …

  • Arbeitsgesellschaft, in der ich arbeiten und Geld verdienen kann, auch wenn es manchmal mühsam ist
  • Bildungsgesellschaft, in der Bildung ein Bürgerrecht für alle ist und sich jeder bis ins hohe Alter bilden und persönlich weiterentwickeln kann
  • Bürgergesellschaft, in der sich Bürger und Bürgerinitiativen aktiv am gesellschaftlichen Leben beteiligen und engagieren können
  • Erlebnisgesellschaft, in der ich mein Leben intensiv erleben und genießen kann
  • Freizeitgesellschaft, in der ich etwas vom Leben habe und nur so viel arbeite, wie nötig ist
  • Generationengesellschaft, in der Alt und Jung konfliktlos miteinander leben und in der die heutigen Generationen nicht auf Kosten der nächsten Generationen leben und Schulden machen
  • Hilfeleistungsgesellschaft, in der sich die Menschen wieder gegenseitig mehr helfen und unterstützen
  • Industriegesellschaft, in der Industrie und technologischer Fortschritt für Wachstum und materiellen Wohlstand sorgen
  • Informationsgesellschaft, in der ich bequem und schnell zu jeder Zeit und an jedem Ort Informationen erhalten und austauschen kann
  • Klassengesellschaft, in der es eine breite Mittelschicht, aber auch eine Ober- und Unterschicht gibt.
  • Konsumgesellschaft, in der ich öfter Neues kaufen und verbrauchen und mir ein schönes Leben machen kann
  • Leistungsgesellschaft, in der ich tun und leisten kann, was Sinn hat und Spaß macht
  • Multikulturellen Gesellschaft mit Menschen unterschiedlicher Herkunft
  • Multi-Optionsgesellschaft, in der ich aus vielen Angeboten wählen und mir mein Leben individuell gestalten kann
  • Sozialgesellschaft, in der mich der Staat vor Not, Armut und Arbeitslosigkeit schützt und sozial absichert
  • Verantwortungsgesellschaft, in der Vertrauen, Verantwortung und Verlässlichkeit den Zusammenhalt der Gesellschaft gewährleisten
  • Wissensgesellschaft, in der ich ein Leben lang Wissen ansammeln und zum gesellschaftlichen und technologischen Fortschritt beitragen kann
  • Wohlfühlgesellschaft, in der für mich gut leben statt viel haben möglich ist
  • Wohlstandsgesellschaft, in der Wohlstand für alle garantiert wird
  • Zivilgesellschaft, in der Freiheit, Gleichheit und Sicherheit garantiert und gelebt werden können

Ihre Ansprechpartnerin

Ayaan Güls
Pressesprecherin

Tel. 040/4151-2264
Fax 040/4151-2091
guels@zukunftsfragen.de

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