Misstrauen. Unzufriedenheit. Frustration. Warum immer weniger Bürger zur Wahl gehen 

Forschung aktuell, 214

26. Mai 2009

(inkl. Grafiken wenn vorhanden)

Misstrauen. Unzufriedenheit. Frustration. Warum immer weniger Bürger zur Wahl gehen

Stiftung für Zukunfsfragen veröffentlicht internationale Repräsentativstudie über die Gründe von Nichtwählern und die Einstellung der Bevölkerung zum Verhältnis von Staatsaufgaben und Bürgerpflicht

350 Millionen Europäer sind nächste Woche aufgerufen, ein neues Europäisches Parlament zu wählen. Die meisten werden jedoch zu Hause bleiben. Erwartet wird die geringste Wahlbeteilung seit der Einführung der Direktwahl vor 25 Jahren – trotz eines höheren Bildungsniveaus auf breiter Ebene. Erstmals hat die STIFTUNG FÜR ZUKUNFTSFRAGEN von British American Tobacco in zehn Staaten Europas die Bürger danach gefragt, warum immer weniger Wahlberechtigte wählen gehen. Die Antworten der über 12.000 Befragten ab 14 Jahren aus den EU-Mitgliedsstaaten Deutschland, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Österreich, Polen und Spanien sowie aus Russland und der Schweiz vermitteln ein problematisches Bild der Bürger über die Politik der Gegenwart.

  • Die Annahme „durch Wahlversprechen belogen zu werden“ ist für mehr als zwei Drittel der Bundesbürger (68%, Europadurchschnitt 60%) ein Grund dafür, warum immer mehr Bürger ihrem Wahlrecht nicht nachgehen. Vor allem die Landbevölkerung (75%), Familien (73%) und Ostdeutschen (72%) äußern sich hierbei skeptisch.
  • Die „generelle Unzufriedenheit mit Politikern und Parteien“(57%) findet in jedem Land der Europäischen Union eine mehrheitliche Zustimmung. Fast drei Viertel der Deutschen (73%) teilen diese Einstellung – die höchste Zustimmungsrate in ganz Europa.
  • Der dritte wesentliche Grund ist die Befürchtung der Europäer, „durch Wahlen, nichts verbessern zu können“ (49%). Bei diesem Argument zeigt sich jedoch ein geteiltes Europa: Etwa zwei Drittel der Deutschen (63%), der Finnen und Polen (jeweils 68%) stimmen dieser resignierten Haltung zu. In den Ländern mit einer vergleichsweise hohen Wahlbeteilung – wie z.B. Spanien oder Italien – äußert dagegen nur etwa jeder Vierte diese Sorge (Spanien 23%, Italien 27%).

„Durch alle Bevölkerungsschichten zieht sich die Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Politik. Viele Bürger sind enttäuscht oder frustriert und verweigern ihre Zustimmung. Die Chancen einer aktiven Beteilung an demokratischen Prozessen nutzen daher immer weniger Bürger. Dies kann zu einem handfesten Problem der Demokratie werden: Wenn nächste Woche nur vierzig Prozent der Wahlberechtigten wählen gehen, hat eine Partei, die mit über fünfzig Prozent die absolute Mehrheit erreicht, nur noch die Zustimmung von jedem fünften wahlberechtigten Bürger. Mit Volksherrschaft hat dies dann nur noch wenig gemeinsam“, so Dr. Ulrich Reinhardt, der Europaexperte der Stiftung.

Keine Vorbilder. Kein Einfluss. Kein Interesse.
Gefahr einer „Anti-Parteien-Haltung“ droht

Für drei von fünf Deutschen (61%; europaweit 45%) sind Politiker schon heute keine moralischen Vorbilder mehr. Immer weniger Politiker stehen noch für Werte wie Vertrauen, Verlässlichkeit oder Ehrlichkeit bzw. leben diese vor. So wird die Glaubwürdigkeit der Politiker infragegestellt und somit auch die Funktionsfähigkeit der Politik. Vor allem die deutschen Männer (63%) und Jungsenioren (65%) bemängeln die fehlende moralische Vorbildfunktion. Mehr als zwei von fünf Befragten (44%) glauben zudem, „dass ihre Stimme keinen Einfluss hat“, zeigen aber gleichzeitig auch ein „geringes Interesse an Politik“ (Deutschland 37%, Europawert 40%). In Deutschland sind es insbesondere die Jugendlichen (51%), aber auch die Studenten (49%), die politische Handlungen nicht beachten. Da wundert es wenig, dass etwa jeder zehnte Bundesbürger (9%) angibt, „etwas Besseres zu tun zu haben, als wählen zu gehen“. Europaweit sind es sogar 15 Prozent.

In der Konsequenz wenden sich viele Bürger von der Politik ab, klagen und beschweren sich lieber, als selber Verantwortung zu übernehmen. Macht kommt für sie nicht mehr von Selbermachen, sondern wird für sie von anderen gemacht. Damit fördern sie das, was sie gleichzeitig bemängeln: Sie lassen andere für sich entscheiden. Reinhardt: „Es ist immer Besorgnis erregend, wenn Möglichkeiten nicht genutzt werden. Bei vielen Bürgern macht sich zunehmend ein Gefühl von Gleichgültigkeit und Resignation breit. Brüssel ist für sie weit weg, die Themen erscheinen komplex oder verworren und die Bedeutung der Europawahlen wird als unwichtig eingeschätzt. Auch fehlt der persönliche Bezug zu Politikern, die eher als Bürokraten denn als Volksvertreter gesehen werden. All diese politischen Unzufriedenheiten führen zunehmend zu einer Art Anti-Parteien-Haltung, die eine konkrete Gefahr für das Projekt eines Europas nach sich ziehen kann.
Um das Vertrauen des Bürgers zurück zu gewinnen, müssten Parteien wie Politiker mehr Verlässlichkeit, mehr Eigenprofil und mehr Perspektive bieten und weniger Austauschbarkeit, Inszenierung und Denken in Legislaturperioden.“

Staat und Privat:
Was der Bürger wirklich will!

Haben wir in Europa mehr Staat, als für uns gut ist? Haben wir uns zu sehr an den Übervater Staat gewöhnt? Wie viel Staat braucht und will der Bürger in Zukunft? Und ist die oft zitierte Krise der Demokratie nicht auch eine Chance für mehr Basisdemokratie und Eigenverantwortung durch den Bürger? In gleichem Umfang, wie Wahlmüdigkeit und Politikverdrossenheit steigen, bilden sich neue Formen der Bürgerpartizipation, die eine Art demokratische Gegenbewegung darstellen. So glaubt schon heute fast jeder dritte Europäer (30%), dass die Bürger durchaus bereit sind, sich selber mehr zu helfen und nicht alle Probleme einfach dem Staat zu überlassen. Hierzulande sind es sogar 40 Prozent, die Zustimmung äußern, wobei nur geringe Abweichungen innerhalb der Bevölkerung nachweisbar sind.

  • Zudem bemängelt jeder zweite Deutsche (50%; Europadurchschnitt 36%) die Vielzahl an Gesetzen, Vorschriften und staatlichen Reglementierungen und kommt zu dem Schluss: „Vieles würde ohne den Staat besser laufen“.
  • Zwei Drittel der Bundesbürger (65%; Europaweit 55%) stimmen der Aussage zu, dass „die Freiheit des einzelnen Bürgers unter allen Umständen erhalten bleiben muss – so lange dieses keinen anderen Bürger negativ beeinflusst“.
  • Für eine stärkere Rolle des Staates kann sich dagegen nur eine Minderheit begeistern. Lediglich jeder fünfte Deutsche (20%, Europadurchschnitt 27%) möchte „mehr Entscheidungen des Staates für den Bürger bei Themen wie z.B. Tempolimit oder Fast-Food-Ernährung“.

Reinhardt: „Gerade in Zeiten von drohender Massenarbeitslosigkeit, Armutsrisiko und Wohlstandsverlust erlebt die Erkenntnis des Aufeinander-Angewiesenseins eine Renaissance. Weil der Sozialstaat ‚schwächelt’, sind die Bürger wieder bereit, mehr Verantwortung für sich selbst und ihr soziales Umfeld zu übernehmen“. Der Staat und die Politik sind daher gefordert, vor allem die Selbsthilfe-Infrastruktur im Gemeinwesen weiter auszubauen oder neu zu schaffen. 43 Prozent der Deutschen bzw. 37 Prozent der Europäer sehen die Möglichkeit, für den Staat viel Geld zu sparen, wenn er private Initiativen aus den Reihen der Bürger aktiver unterstützt und fördert. Gleichzeitig fordern aber auch fast drei von fünf Deutschen (57%, Europaweit 47%), dass Einsparungen und Gewinne in wirtschaftlich guten Zeiten mindestens zur Hälfte zum Schuldenabbau verwendet werden, um so den nachkommenden Generationen eine lebenswerte Zukunft zu sichern.

Fazit: Mit dem Ende von grenzenlosen Wohlstandssteigerungen hört der Staat auf, Versorger und Verteiler für alle zu sein. Dies hat weitreichende politische Folgen: Der Staat verliert an Macht und die Bindung der Bürger an den Staat lässt nach. Politik findet wieder mehr „von unten“ statt. Diese Verschiebung der Machtbalance geht mit einem Bedeutungsverlust von Parteien und Politikern einher. Demokratie wird zur Gemeinschaft auf Gegenseitigkeit und zur Bewegung mit Bürgersinn.

Mistrust, Dissatisfaction, Frustration. Why fewer and fewer people are voting.

BAT Stiftung für Zukunftsfragen publishes new European study.

Next week 350 million Europeans will be called upon to elect a new European Parliament.  But most of them will stay at home.  Despite a higher level of education across a broad section of the population, it is expected that the number of people voting will be at its lowest since direct elections were first introduced 25 years ago.  For the first time, the STIFTUNG FÜR ZUKUNFTSFRAGEN (“Foundation for Future Studies”) set up by British American Tobacco has carried out a survey of citizens of 10 countries in Europe, asking why the number of voters going to the polls is declining.  Over 12,000 people over the age of 14 years were surveyed, from the EU member states of Austria, Germany, Finland, France, Great Britain, Italy, Poland and Spain as well as Russia and Switzerland.  The results give a problematic picture of their citizens where the politics of the future are concerned.

  • For three-fifths (60%) of Europeans, the assumption that they are “being lied to in election promises” is one reason why fewer and fewer citizens are using their vote.  In Finland the number of people who mentioned these concerns was as high as four out of every five (82%), and it was about two out of every three in Germany, France (68% each), Russia and Great Britain (63% each).  On the other hand, it was “only” about one person in two in Switzerland (45%), Spain (46%) and Italy (44%).
  • In every country of the European Union the majority of people surveyed (57%) agreed that there was “general dissatisfaction with politicians and parties”, with only minimal differences between people of different ages, sexes, income and education.
  • The third important reason is people’s concern that they “cannot improve anything by voting” (49%).  But in this argument Europe is once again divided: approximately two-thirds of the Finns and the Poles (68% each) agree with this resigned attitude  On the other hand, in countries with a comparatively high turnout in elections – such as Spain (23%) or Italy (27%) – only about one person in four expressed this concern.

“Dissatisfaction with current policies is running through every social stratum.  Many people are disappointed or frustrated and are refusing to give their endorsement.  That is why fewer and fewer European citizens are taking the opportunity to play an active part in democratic processes.  This may become a real problem for democracy, if it means that a party that achieves an absolute majority with over fifty per cent of the votes in fact only has the approval of one fifth of the electorate.  It then has little in common with popular government,” says Dr Ulrich Reinhardt, the Foundation’s expert on Europe.

No role models. No influence. No interest.
There is danger of an “anti-party attitude”

For almost half (45%) of the people surveyed, politicians are no longer moral role models nowadays.  Fewer and fewer politicians still stand for values such as trust, reliability and honesty or exemplify these values through their own lives.  This calls into question the credibility of politicians and at the same time the ability of politics to function.  More than two out of every five people surveyed (44%) also believe “that their vote has no influence”, but at the same time they also have “little interest in politics” (40%).  And about one person in every seven (15%) even admits openly that he’s “got better things to do than to go and vote”.

In consequence, people are turning away from politics, preferring to moan and complain rather than taking on responsibility themselves.  For them, power no longer comes from doing things themselves but is done for them by other people.  As a result, they encourage what they find fault with, letting other people decide for themselves.  As Dr Reinhardt says: “It is always a matter for concern when people do not take advantage of the opportunities available to them.  A feeling of indifference and resignation is becoming increasingly widespread and confused, and the European elections are regarded as being of no significance.  What is also lacking is a relationship with the politicians, who are regarded more like bureaucrats than as representatives of the people.  All these political dissatisfactions are increasingly leading to a sort of anti-party attitude which could bring with it danger for the project to build a single Europe.  In order to win back people’s confidence, parties as well as politicians would have to offer more reliability, a more individual profile, more prospects and less compatibility, staging and thinking in legislative periods.”

State-controlled or Private: What people really want!

Have we got more state control in Europe than is good for us?  Have we become too accustomed to the nanny state?  How much state controls do people need and how much do they want in the future?  And surely the frequently criticised crisis of democracy is also an opportunity for more basic democracy and self-reliance on the part of the citizens?  In the same way, as voter fatigue and disenchantment with politicians increase, new forms of citizen participation are appearing which represent a sort of democratic counter-movement.  For example, today almost one European in three (30%) believes that people are absolutely prepared to help themselves more and not to simply hand over every problem to the state.  In particular the Swiss (43%), Germans (40%), Austrians (39%), Finns (38%) and French (37%) express their agreement, whilst the Spanish (11%) and Italians (16%) tend to react sceptically. 

  • Two-fifths (36%) of the people surveyed criticise the multitude of laws, directives and state regulations and have come to the conclusion that “many things would run better with no state intervention.”  The Italians (19%), Spanish (16%) and Russians (18%) answer most conservatively, whilst the Poles (55%) and Germans (50%) are considerably more in agreement.
  • Across Europe, more than half of the people surveyed agreed with the statement that “the freedom of the individual citizen must be maintained under all circumstances – so long as this does not have a negative effect on any other citizen.”  In France the proportion of people who emphasise this freedom is even more than three-quarters (77%), in Finland (71%) and Switzerland (68%) it is more than two-thirds, but in Great Britain, on the other hand, it is only one person in three (35%).
  • On the other hand, only a minority can show enthusiasm for the state taking on a stronger role.  Only one person in four (27%) would “like the state to take more decisions for its citizens, e.g. on questions such as the speed limit or eating fast food.”   The Germans (20%) are least enthusiastic about this scenario, compared to the Finns (48%) who are thoroughly in agreement.

Dr Reinhardt says: “It is always at those times of threatened mass unemployment, the risk of poverty and the loss of wealth that awareness of our dependence on one another experiences a renaissance.  Because they see that the welfare state is ‘flagging’, people are prepared to take over more responsibility once again for their own lives and for their social environment.”   This fact encourages the state and politicians to further extend or re-create the self-help infrastructure in the community.  Over a third of those surveyed (37%) see it as an opportunity for the state to save a lot of money if it would support and promote more actively private initiatives from the ranks of its citizens.  But at the same time almost one person in two (47%) is also demanding that at least half of the savings and profits made in economically good times should be used to reduce debt in order to ensure that the next generation will have a future that’s worth living.

To summarise: Now that unlimited increases in wealth are coming to an end, states are giving up acting as the providers and distributors for everyone.  This has far-reaching political consequences: the state will become less powerful and the bond between citizens and the state will weaken.  Politics will once again happen more “from the grass roots upwards”.  This shift in the balance of power will go hand in hand with a loss of importance of parties and politicians.  Democracy will become a mutual guarantee society and a movement with a sense of civic-mindedness.

Forschungsinformationen

Befragte Nationen: Deutschland, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Österreich, Polen, Russland, Schweiz, Spanien
Stichprobengröße: Insgesamt 12.100 Personen ab 14 Jahren
Methode: Repräsentative Face-to-Face-Befragung
Befragungszeitraum: März/April 2009

Information about the research

Countries surveyed: Austria, Finland, France, Germany, Great Britain, Italy, Poland, Russia, Spain, Switzerland
Size of sample: A total of 12,100 persons over 14 years of age
Method: Representative face-to-face survey
Survey period: March 2009

Ihre Ansprechpartnerin

Ayaan Güls
Pressesprecherin

Tel. 040/4151-2264
Fax 040/4151-2091
guels@zukunftsfragen.de

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