Fernsehen: Leit- oder Leidmedium des Freizeitverhaltens? 

Der Freizeitbrief, 2

1. März 1980

(inkl. Grafiken wenn vorhanden)

Fernsehen: Leit- oder Leidmedium des Freizeitverhaltens?

Die erste „Fernsehgeneration“ hat das Erwachsenenalter erreicht. In den 18 Jahren nach dem großen Fernsehboom – 1953 besaßen keine tausend Bundesbürger ein Fernsehgerät, 1962 bereits rund sechs Millionen Haushalte – ist der bundesdeutsche Nachwuchs mehr vom Massenmedium Fernsehen geprägt, als vom Einfluß der Bildungseinrichtung Schule.

Damit aber nicht genug. Dieses Resümee, das der Freizeit-Experte Prof. Dr. Horst W. Opaschowski im Rahmen seiner Freizeit-Forschungen zieht, stellt weiter fest, daß ein 18jähriger im Laufe seines Lebens mehr Zeit vor dem Fernsehschirm verbracht hat als in der Schule. Auch die meisten Freizeitinteressen sind in diesem Alter bereits voll ausgebildet. Im Erwachsenenalter kommen kaum noch neue hinzu. Für die erste Fernsehgeneration aber waren Familienleben und Fernsehkonsum weitgehend identisch. Die jahrelang ausgeübte Freizeitbeschäftigung Fernsehen, diese erlebte Passivität, hat bereits den Freizeitlebensstil einer ganzen Generation geprägt. Nach Professor Opaschowski sind Drogensucht und Alkoholismus, Jugendsekten und Jugendreligion, Flucht aus der Wirklichkeit und Sehnsucht nach einem alternativeigenaktivem Leben durchaus im Zusammenhang mit einem so ausgeprägten passiven Medienkonsum zu sehen.

Ja, das Fernsehen selbst wird mit einem „Suchtfaktor“ gleichgesetzt. Das Fernsehen ist für viele Menschen zum Leitmedium ihres Freizeitverhaltens geworden. Für keine andere Freizeitbeschäftigung wird mehr Zeit aufgebracht. Ein Leben ohne Fernsehen erscheint langweilig, reizlos und nicht erlebenswert.

Diese Nicht-mehr-verzichten-wollen dokumentierende Abhängigkeit des Freizeitverhaltens vom Fernsehen wurde schon vor 20 Jahren von dem amerikanischen Soziologen Harold L. Wilensky festgestellt und 1971 von der Münchner Gesellschaft für rationale Psychologie bestätigt. In einem Experiment sollten 184 „repräsentative Fernsehzuschauer“ ein Jahr lang auf das Fernsehen verzichten. Nach einem Monat forderten 10 Prozent, nach drei Monaten 58 Prozent der freiwilligen Versuchspersonen ihren Fernseher zurück. Im fünften Monat gab auch der letzte auf. Die in diesem Test genannten Hauptgründe – Abende und Wochenenden zu langweilig, kann nicht mehr verzichten, will nicht mehr verzichten -, tauchen auch bei der heutigen Fernsehgeneration wieder auf. Der freizeitbeherrschende Fernsehkonsum trägt alle Anzeichen von Suchtcharakter, das heißt, der „Fernsehentzug“ hinterläßt ein Freizeitvakuum, das viele aus eigener Kraft nicht mehr füllen können.

Als weitere Symptome für „Fernsehsucht“ nennt Prof. Opaschowski die Einschränkung von sogenannten „Außer-Haus-Aktivitäten“, die Neigung zum heimlichen Fernsehen und das „Fernseh-Betrunkensein“ (der innere Zwang ununterbrochen fernzusehen). Außerdem führt die „Fernseh-Stille“ zu gereizter Stimmung und aggressivem Verhalten, das Dauerfernsehen erzeugt Schuldgefühle.

Fernsehsüchtiges Freizeitverhalten entsteht aber nicht wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Es kündigt sich in zwei Phasen an. Zum einen wächst das Unbehagen über die eigene Freizeit. Die mangelnde Fähigkeit, diese selbst zu gestalten, führt leicht zu beiläufig ziellosen und unbewußten Beschäftigungen, zu Zeittotschlagen und lustlosem Gammeln. Zum anderen wird eben dieses Gefühl der Leere durch gedankenlosen Fernsehkonsum kompensiert. Schließlich kann man nur noch abschalten, wenn das Gerät eingeschaltet ist. Das Dauerfernsehen ist die Folge.

Je größer der Zuwachs an Freizeit wird, umso offenkundiger werden die Symptome. Denn, so Opaschowski, die Neubewertung der Arbeit wurde verzögert, die Aufwertung der Freizeit hat nicht stattgefunden. Und das Lernen der Freizeit steht in keinem Lehrplan der Schulen. So sind die wechselnden Fernsehprogramme Schlepper für schlappe Fernsehkonsumenten ohne Eigenantrieb.

1979 nur halb gearbeitet?

Durchschnittlich 165 Tage hat der deutsche Arbeitnehmer 1979 gearbeitet, also nicht mehr als 45 % aller Tage des Jahres. Von den „freien“ Tagen entfielen im Schnitt dreizehn auf Krankheit, zehn auf Kurzarbeit, Streiks und Teilzeitarbeit, 52 auf Sonntage und elf auf Feiertage. Mit 52 Sonnabenden gegenüber 26 im Jahre 1960 und 27 Urlaubstagen gegenüber 16 hat der Arbeitnehmer mithin beträchtlich an Freizeit gewonnen.

Quelle: IAB, Nürnberg

Ins rechte Licht gerückt

Den meisten fällt es schwer, unumwunden zu gestehen, daß sie aus purer „Gewohnheit“ oder aus „Langeweile“ fernsehen. Das geht aus einer Freizeit-Studie des BAT Freizeit-Forschungsinstitutes in Zusammenarbeit mit dem Frankfurter Contest-Census-Institut hervor. Ursachen hierfür – so das Untersuchungsergebnis – sind soziale Hemmungen und persönliche Schuldgefühle, die bei der Gruppe der Angestellten stärker ausgeprägt sind als bei den Arbeitern. Allgemein herrscht danach die Neigung vor, sich ins rechte Licht zu setzen und nur die positiven Motive zum Fernsehen zu nennen, z.B. „Information, um auf dem laufenden zu bleiben“ oder „um Anregungen zu erhalten“.

Fernsehen als Bildungsmedium

„In Brasilien haben Studien gezeigt, daß das Fernsehen bei der ärmeren Stadtbevölkerung, die keinen Zugang zu Büchern oder Medien in Schriftform hat, die Lernleistung beträchtlich erhöhen kann. In Japan ist das Fernsehen mit dem Unterricht in den Schulen gekoppelt. Auch an der Elfenbeinküste wird das Fernsehen nun verstärkt zu Erziehungs- und Ausbildungszwecken eingesetzt“. Club of Rome: Das menschliche Dilemma. Zukunft und Lernen (1979)

„Schafft das Fernsehen ab“!
Die radikale Forderung von Jerry Mander gegen das „Leben aus zweiter Hand“

„Wir können das Fernsehen nie mehr los werden, weil es eben da ist“, ist eine Weisheit, von der uns der Amerikaner Jerry Mander befreien will. Nach dreijährigem Nachdenken über das Fernsehen hat der erfolgreiche Produzent suggestiver Fernseh-Werbespots den radikalen Bruch vollzogen. „Schafft das Fernsehen ab“, ist seine kompromißlose Forderung, denn das Fernsehen sei nicht reformierbar und man müsse sich seiner total entledigen, wenn es die humanen und sozialen Anlagen des Menschen nicht zerstören solle. Die suggestive Kraft des Fernsehens, so Mander, ist gegen die Natur der Menschen gerichtet, und er fordert den Kampf gegen ein steriles Leben aus zweiter Hand.

Mit dieser Forderung steht Mander nicht allein. Nach einer groß angelegten Pressekampagne erhielt er starken Zuspruch von Betroffenen. Weit über zweitausend Briefe mit meist negativer Beurteilung des Fernsehen gingen bei ihm ein. Zu den häufigsten Zitaten gehörten: „innerlich leer machend“, „wie Gehirnwäsche wirkend“, „Bewußtsein kontrollierend“ und „süchtig machend“. Allerdings, darüber sind sich die meisten Fernsehzuschauer einig, geht mit solchen Empfindungen ein „Nicht-davon-loskommen“ und „Sich-nicht-davon-losreißen-können“ einher. Das Fernsehen, auch das ist einhellige Meinung, verändert die eigene Wahrnehmungs- und Erfahrungsfähigkeit.

Insofern sei die „Sehnsucht“ nach einer modernen Welt ohne die Dominanz des Fernsehens eine gesellschaftliche Herausforderung der 80er und 90er Jahre.

Vision ’90: „Compunication“ aus der Steckdose – der neue „Babyboom“?

Neue Erlebnis- und Kommunikationspartner einfach so ins Wohnzimmer holen, das hautnahe Zusammensein mit dem Lebenspartner elektronisch anpeilen, das machen technisch vervollkommnte Compunicatoren möglich. Von der Bundespost installierte Kabelsteckdosen mit Rückkanälen befriedigen Neugier, Entdeckungsdrang und Erlebnisfreude durch laufende „Schau-zu-Mach-mit“ – Programme. Per Signalknopf wird bewegtes Leben in Bild und Ton elektronisch umgesetzt und die Suggestion selbsterlebter Erfahrung vermittelt.

Der heimische Sessel im abgedunkelten Wohnzimmer, die Isolierzelle nach draußen mit intensiver – intensivster – Telekommunikation in den eigenen vier Wänden – allein oder mit dem Partner – machen das Gespräch mit dem Nachbarn entbehrlich, die Runde in der Kneipe nicht sonderlich begehrlich, das Leben auf Straßen und Plätzen vergessen. Aber die Compunication (über Computer und Mikroprozessoren, Video und Kabelfernsehen gesteuerte Kommunikation) erweitert das Bewußtsein, macht „Überalldabeisein“ möglich, inszeniert kunstvolle Signalwelten, erlaubt kolossales Kommunikationsvergnügen zwischen „action“ und „crime“, computerisierten Erlebnissen und dosierten Erfahrungen aus zweiter Hand.

Die Teilnehmer an Compunicationsprozessen entledigen sich gleichzeitig der meisten Eheprobleme wie Ehestreitigkeiten (Rückgang von 32 auf 13 Prozent), Prügeln des Ehepartners (von 17 auf 8 Prozent) und außereheliche Verhältnisse (von 35 auf 16 Prozent bei Männern, 15 auf 11 Prozent bei Frauen). Nach dieser Vision nimmt dagegen der eheliche Verkehr erheblich zu, ein neuer „Babyboom“ kündigt sich an – Fernsehen sei dank!

Fernsehen als Freizeitinteressenberater?

Die neue NDR-Fernsehserie „Ideen für die Freizeit“

Warum sollte man nicht versuchen, die Zuschauer anzuregen, durch das Fernsehen weniger fernzusehen – dachte sich NDR-Redakteur Hans-Joachim Herbst und startete im Oktober 1979 eine sechsteilige Fernsehserie „Ideen für die Freizeit“. Die Gründe lagen auf der Hand: Fernsehen und moderne Unterhaltungselektronik verführen zum passiven Freizeitkonsum. Darüber hinaus fördert eine einseitige monotone Arbeit oftmals den Verlust von Kreativität und Spontaneität, so daß persönliche Bedürfnisse und Interessen zu verkümmern drohen.
Die neue Fernsehserie bringt kritische Informationen, neue Ideen, praktische Anregungen und konkrete Vorschläge. In der Sendung werden Menschen „von nebenan“ vorgestellt, die spielerischen, kreativen oder sozialen Freizeitbeschäftigungen nachgehen und zum Nachmachen anregen sollen. Während der Live-Sendung im Studio können Zuschauer anrufen, damit Anregungen und Wünsche an andere Zuschauer weitergegeben werden können. Am Mach-mit-Programm sind die Zuschauer zu Hause aktiv beteiligt. Die Mattscheibe bleibt bei Konzentrations- und Wahrnehmungsübungen vorübergehend schwarz oder es wird der Text eingeblendet: „Dies ist keine Bildstörung!“
Die fachliche Beratung für die neue Freizeitserie hat der Freizeitwissenschaftler Prof. Dr. Horst W. Opaschowski übernommen. Er berichtet laufend über neue Forschungserkenntnisse, beispielhafte Einrichtungen im Freizeitbereich. Freizeitanregungen für Familie, Freundeskreis, Nachbarschaft und Gemeinde sowie eigene Erlebnisse, Erfahrungen und Erwartungen sollen Freude am Selbertun zu Hause vermitteln.
Dabeisein-Gefühle und Mitmach-Erlebnisse helfen, das Passivsein, das Verharren in Konsumentenhaltung, das geduldige Zuschauen ohne eigenes Zutun zu überwinden. Die Sendereihe „Bei uns nebenan. Ideen für die Freizeit“ weist in die Zukunft: Ein Fernsehen, daß sich verstärkt als „Freizeitinteressenberater“ profiliert. Gegen die sich abzeichnende allgemeine „Fernsehmüdigkeit“ und den offenkundigen „Sättigungsgrad“ des isolationsfördernden passiven Lehnstuhlbildschirmspaßes.
(Informationen: Norddeutscher Rundfunk/ 111. Fernsehprogramm, Stichwort: Bei uns nebenan, Gazellenkamp 57, 2000 Hamburg 54, Tel. 040/413 47 35).

Der Wunsch nach Alleinsein wächst

Das Bedürfnis, allein für sich zu leben, nur selten Wohnung und Bett mit einem anderen zu teilen, wird, so der bekannte Psychotherapeut Dr. Theodor Seifert, zunehmend zur tragenden praktischen Lebensgrundlage. Im Alltag der menschlichen Beziehungen, wie es Ehe und Familie darstellen, höre man immer öfter den Wunsch nach Alleinsein, einem eigenen Zimmer oder nur einer kleinen Ecke, wo niemand stört, man nichts hört und sieht. „Die Gruppe dieser Menschen ist schon sehr groß und sie wächst weiter“, erklärt Seifert in „psychologie heute“. Von hier aus sei es nur noch ein kurzer Schritt zu den heutigen Versuchen alternativen Lebens, die unter dem englischen Wort „Single“ bekannt geworden sind.

Ihre Ansprechpartnerin

Ayaan Güls
Pressesprecherin

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